Der historische Kontext
Die Wurzeln des Mythos vom anhaltenden Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft reichen zurück zu zwei maßgeblichen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts: Andrew Dickson White (1832-1918) und John William Draper (1811-1882). Deren Werke, in denen sie versuchten, das Konfliktmodell durch ihre Deutung historischer Ereignisse zu untermauern, entstanden nicht zufällig gerade im 19. Jahrhundert. Auch wenn es vor dem 19. Jahrhundert gelegentliche Bedenken hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Religion und Wissenschaft gab, so rückte das Thema erst ab den 1820er Jahren in den Fokus. Das Thema wurde so präsent, dass in den 1850er und 1860er Jahren Lehrstühle an Universitäten und theologischen Hochschulen etabliert wurden, welche zum Ziel hatten, die Harmonie von Wissenschaft und Religion zu demonstrieren.
All dies geschah als Reaktion auf stärker werdende Spannungen, die vor allem auf neue bahnbrechende Erkenntnisse aus der Kosmologie und Geologie zwischen 1810 und 1840 zurückzuführen waren. Diese Erkenntnisse rüttelten an der Glaubwürdigkeit der ersten Kapitel der Bibel, indem sie
- die Entstehung des Sonnensystems ohne übernatürliches Eingreifen Gottes erklärten,
- das angenommene Alter der Erde von 6000 auf mehrere Millionen Jahre erhöhten und
- Noahs Sintflut maximal zu einem regionalen statt eines globalen Ereignisses degradierten.
Wie auch heute reagierte die Christenheit unterschiedlich: Die einen passten ihre Deutungen der Bibel an die neuen Erkenntnisse an, während die anderen in den neuen Theorien Resultate gottloser Wissenschaft sahen („Es gibt keinen Widerspruch zwischen Gottes Wort und der Wissenschaft, sondern nur zwischen Gottes Wort und Wissenschaftlern“).
Insgesamt fühlte sich die Christenheit jedoch von der Wissenschaft angegriffen. Es war also nicht die Wissenschaft, die sich um den negativen Einfluss der Religion sorgte, sondern eher die Religion, die – wie ein Theologe es ausdrückte – „um ihr Leben kämpfte, gegen eine große Gruppe von Wissenschaftlern“.
Wissenschaftler sahen es zunehmend als Grenzüberschreitung, wenn Theologen sich zu wissenschaftlichen Themen äußerten oder gar versuchten, deren wissenschaftliche Erkenntnisse zu überwachen. Dieses Klima der Entfremdung zwischen Theologen und Wissenschaftlern spitze sich nach Erscheinen von Darwins „Über die Entstehung der Arten“ 1859 weiter zu. Darwins Theorie der natürlichen Auslese sorgte dafür, dass nun auch Dinge des organischen Lebens durch Naturgesetze beschreibbar wurden, womit die Religion in einem weiteren Bereich an Autorität verlor.
Wissenschaftler äußerten ihren Unmut darüber, dass sie sich der Theologie unterordnen sollten, und verlangten Freiheit in ihren wissenschaftlichen Bestrebungen. So verkündete der irische Arzt John Tyndall 1874:
„Die uneinnehmbare Position der Wissenschaft lässt sich in wenigen Worten beschreiben. Wir beanspruchen und werden der Theologie die gesamte Domäne der kosmologischen Theorie entreißen. Alle Pläne und Systeme, die in das Gebiet der Wissenschaft eingreifen, müssen, soweit sie dies tun, ihrer Kontrolle unterliegen und alle Gedanken daran aufgeben, sie kontrollieren zu wollen. Ein anderes Vorgehen hat sich in der Vergangenheit als verhängnisvoll erwiesen und wäre heute schlichtweg töricht.“
Die Wegbereiter des Konflikt-Mythos
Mit diesen Bestrebungen im Hinterkopf mehrten sich die religionskritischen Stimmen. Es entstand ein Interesse daran, die Geschichte so umzuschreiben, dass die organisierte Religion als Bösewicht und Feind der Wissenschaft da stand. In diesem Kontext entstanden die Werke von Draper und White, welche die „historischen Belege“ lieferten und dafür sorgten, dass die These vom ewigen Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft als Dogma zementiert wurde. Hier zwei Zitate dieser beiden Persönlichkeiten:
Ich schlage daher vor, Ihnen heute Abend einen Überblick über den großen geistigen Kampf um die Freiheit der Wissenschaft zu geben – einen Kampf, der seit so vielen Jahrhunderten andauert. Ein harter Wettkampf war dies. Ein Krieg, der länger andauerte, mit heftigeren Schlachten, hartnäckigeren Belagerungen und energischerer Strategie als in jedem der vergleichsweise kleinen Kriege Alexanders, Caesars oder Napoleons … In der gesamten modernen Geschichte führte die Einmischung in die Wissenschaft im vermeintlichen Interesse der Religion – egal wie gewissenhaft eine solche Einmischung gewesen sein mag – stets zu den schlimmsten Übeln sowohl für die Religion als auch für die Wissenschaft, ohne Ausnahme.
Andrew Dickson White, „The Battle-Fields of Science“, (1869)
Der Antagonismus, den wir somit zwischen Religion und Wissenschaft beobachten, ist die Fortsetzung eines Kampfes, der begann, als das Christentum politische Macht zu erlangen begann… Die Geschichte der Wissenschaft ist nicht nur eine Aufzeichnung isolierter Entdeckungen; sie ist eine Erzählung des Konflikts zweier miteinander ringender Kräfte: der expansiven Kraft des menschlichen Intellekts auf der einen Seite und der Druck, der aus traditionellem Glauben und menschlichen Interessen resultiert, auf der anderen.
John William Draper, „History of the Conflict between Religion and Science“ (1874)
Laut Ronald L. Numbers wissen Historiker seit Jahren, dass Drapers und Whites Werke mehr Propaganda als Geschichte beinhalten. Im von ihm editierten Buch (hier geht es zur Übersicht) wird versucht, einige der von ihnen angesprochenen historischen Ereignisse, mit denen sie den negativen Einfluss der Religion zu demonstrieren versuchten, ins rechte Licht zu rücken. Wenn es um die Motive der beiden geht, so spielte wohl nicht nur der historische Kontext, sondern auch persönliche Ressentiments eine Rolle:
White, damals Präsident der Cornell Universität in Ithaca, wurde ein Anhänger des Konfliktmodells, nachdem ihn religiöse Kritiker als Ungläubigen gebrandmarkt hatten, weil er, wie er es formulierte, versuchte, in der Stadt „ein Asyl für die Wissenschaft zu schaffen, wo die Wahrheit um ihrer selbst willen gesucht wird und nicht zurechtgestutzt oder zugeschnitten wird, um zu den Offenbarungen der Religion zu passen.“ 1869 gab er den Vortrag mit dem Titel „The Battlefields of Science“, aus dem auch das obige Zitat stammt. Er nutze den Vortrag als Basis für sein zweiteiliges Werk „A History of the Warfare of Science with Theology in Christendom“, dessen erster Band 1896 erschien.
Draper, ein angesehener Arzt, Chemiker und Historiker, nahm besonders die römisch-katholische Kirche ins Visier. Er selbst begründete seinen Fokus damit, dass die Kirche im Laufe der Geschichte die größte und einflussreichste christliche Konfession bildete. Vermutlich steckte hinter seinem Fokus jedoch auch persönlicher Groll: Als sein 8-jähriger Sohn im Sterben lag, versteckte seine zum Katholizismus konvertierte Schwester bis zu dessen Tod das Lieblingsbuch des Sohnes, ein evangelisches Traktat. Draper schmiss seine damals bei ihm wohnende Schwester aus dem Haus und machte die Kirche für ihr dogmatisches Verhalten verantwortlich.
Diskussion
Mag sein, dass Draper und White in ihren Werken über die Stränge geschlagen haben und mit ihren Darstellungen der Kirche als Bösewicht, welcher der Wissenschaft ständig Steine in den Weg gelegt hat, historische Tatsachen verdreht haben. (Ich bin gespannt auf die Klarstellungen.)
Mag sein, dass der Einfluss der Religion auf die wissenschaftliche Forschung bis dahin neural oder gar positiv war. Allerdings finde ich, zeigt schon diese Einleitung, dass die These vom Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft nicht unbegründet ist, da ja klar beschrieben wird, dass es ab dem 19. Jahrhundert zu Spannungen kam. Vielleicht kam es bis dahin nicht häufig zu Spannungen, weil die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Bibel bis dahin nicht so vehement widersprachen. Erst als im 19. Jahrhundert ein Kapitel der Bibel nach dem anderen infrage gestellt werden musste, zeigte sich das wahre Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft.
Kurz zusammengefasst: Ich vertraue den Autoren des Buches, dass Draper und White übertrieben haben. Aber dies reicht für mich noch nicht, um das Konfliktmodell als Ganzes zu verwerfen. Mal schauen, ob sich das ändert, wenn ich das Buch durchgelesen habe.
Was denkst du über die These, dass Religion und Wissenschaft schon immer im Konflikt miteinander standen? Hast du weitere Literaturempfehlungen zum Thema? Schreib es unten in die Kommentare.