Die Christenheit [im frühen Mittelalter] behauptete, dass alles Wissen in der Heiligen Schrift und in den Traditionen der Kirche zu finden sei […] Die Kirche stellte sich somit als Bewahrerin und Schiedsrichterin des Wissens dar; Sie war immer bereit, auf ihre Macht zurückzugreifen, um Gehorsam gegenüber ihren Entscheidungen zu erzwingen. Damit schlug sie einen Weg ein, der ihre gesamte weitere Karriere bestimmte: Sie wurde für mehr als tausend Jahre zu einem Stolperstein im intellektuellen Fortschritt Europas.
John William Draper, „History of the Conflict between Religion and Science“, 1874 (übersetzt aus dem Englischen)
Warum der Mythos fortbesteht
Wenn man Michael H. Hank Glauben schenk, ist die Meinung, dass die christliche Kirche den wissenschaftlichen Fortschritt im Mittelalter unterdrückt habe, unter Akademikern, die sich mit dem Thema auskennen, weitestgehend verschwunden. Der Mythos bestehe weiterhin fort, weil er sich so gut mit anderen Mythen zum Thema kombinieren ließe und weil gewisse Schriftsteller ihre Informationen unkritisch von vorangehenden Werken übernehmen würden, statt die neuesten Erkenntnisse der Forschung zu berücksichtigen.
Hauptargument: Das Aufkommen von Universitäten unterstützt durch die Kirche
Neben einer Aufzählung von bedeutenden wissenschaftlichen Errungenschaften des Mittelalters, ist das zentrale Argument gegen den Mythos, dass die Kirche erheblich zur Entstehung von Universitäten beigetragen hat. Beginnend im 12. Jahrhundert entstanden zunächst spontan Universitäten in Städten wie Bologna, Paris und Oxford. Bis 1500 gab es dann ca. 60 davon in Europa. Etwa 30 Prozent des Lehrstoffs und der Texte, die an den Universitäten behandelt wurden, befassten sich mit naturwissenschaftlichen Themen. So erhielten hunderttausende von Studenten Zugang zur Wissenschaft – keine gute Sache für die Kirche, wenn sie denn wirklich an der Verhinderung von wissenschaftlichem Fortschritt interessiert gewesen wäre.
An dieser Stelle gibt es jedoch drei Einwände, die oft erwähnt werden:
Gegenargument 1: „Die meisten Studenten befassten sich mit Theologie!“
Ein häufiges Gegenargument gegen die These, dass die Kirche den wissenschaftlichen Fortschritt unterstützte, lautet, dass die meisten Studenten an Universitäten Priester oder Mönche waren und sich hauptsächlich mit Theologie befassten. Dies ist jedoch nicht korrekt. Erstens erfüllten die meisten Studenten nicht die Voraussetzungen, um Theologie zu studieren und widmeten sich daher anderen Fächern (meistens Jura). Zweitens gab es nicht einmal an allen Universitäten eine theologische Fakultät. Den neueren Universitäten wurde sogar bis ins späte Mittelalter verboten, Theologie zu lehren.
Der falsche Eindruck, die meisten Studenten seien Priester und Mönche gewesen, entstand vermutlich deswegen, weil viele bedeutsame Schriften aus dieser Zeit über Naturwissenschaften eben von Priestern und Mönchen stammten.
Gegenargument 2: „Die Kirche verbot 1210 und 1215 Schriften von Aristoteles an der Universität in Paris“
Auch wenn diese Aussage richtig ist, stellt sie kein starkes Gegenargument dar, weil es sich bei den Verboten lediglich um lokale und zeitlich begrenzte Verbote handelte. Eine Generalverurteilung der mittelalterlichen Kirche ist daher unpassend. Die meisten Universitäten waren von diesen Verboten nicht betroffen, und die Studenten konnten einfach die Universität wechseln, wenn sie mit den Verboten nicht einverstanden waren. Zudem ist bekannt, dass 1240 das Werk „Physik“ von Aristoteles wieder im Lehrplan in Paris aufkreuzte und einige von Aristoteles Schriften 1255 sogar notwendig für einen Bachelor- oder Masterabschluss in Kunst waren.
Gegenargument 3: „Im Jahr 1277 verurteilte der Bishop von Paris 219 philosophische Thesen“
Diese bekannte Verurteilung betraf hauptsächlich Thesen über den Determinismus (Lehre von der Vorbestimmtheit allen Geschehens) von Aristoteles oder Aussagen wie „Die einzigen weisen Menschen in der Welt sind Philosophen.“ Ironischerweise wird diese Verurteilung von einigen Historikern als förderlich für den wissenschaftlichen Fortschritt angesehen, da sie dazu zwang, sich von aristotelischen Denkmustern zu lösen und alternative Ideen zu entwickeln. Pierre Duhem betrachtete die Verurteilung aus diesem Grund sogar als Geburtsstunde der modernen Wissenschaften. Diese Assoziierung geht den meisten heutigen Historikern jedoch zu weit.
Schlussfolgerung
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die mittelalterliche Kirche nicht der Feind des wissenschaftlichen Fortschritts war, sondern aktiv zur Förderung von Bildung und Wissenschaft beitrug. Die Universitäten, die in dieser Zeit entstanden, boten vielen Menschen Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Diskussion
Das Argument über die Unterstützung der Universitäten leuchtet mir ein. Allerdings betrifft dies nur die Zeitperiode vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, also das Spätmittelalter. Was ist mit dem Frühmittelalter (6.-11. Jahrhundert)? Dies wird hier mit keinem Wort erwähnt. Aus diesem Grund finde ich die Argumentation auch nur halb überzeugend.
Ein weiterer Punkt, der mich stört, ist der folgende: Der Autor zitiert aus dem Buch „The Sun in the Church“ von John Heilbron:
„Die römisch-katholische Kirche hat das Studium der Astronomie über sechs Jahrhunderte lang, von der Wiederbelebung des antiken Wissens im Spätmittelalter bis zur Aufklärung, finanziell und sozial stärker unterstützt als jede andere und wahrscheinlich alle anderen Institutionen zusammen.“
Mein Problem: Die Kirche war meines Wissens nach auch die mächtigste Institution, mit Meinungshoheit über Philosophie und Wissen. In welcher Weise hätte eine andere Institution also überhaupt nennenswerten Einfluss auf die Entwicklung von Forschung nehmen können? Für mich hört sich diese Aussage daher so an, als würden Männer des 19. Jahrhunderts damit prahlen mehr Geld verdient zu haben als Frauen, während Frauen gar nicht denselben Zugang zum Arbeitsmarkt hatten wie Männer.