Eine Kombination von Faktoren ist für das „Verschließen des westlichen Geistes“ verantwortlich: der Angriff auf die griechische Philosophie durch den Apostel Paulus, die Übernahme des Platonismus durch christliche Theologen und
Charles Freeman, „The Closing of the Western Mind: The Rise of Faith and the Fall of Reason“, 2003 (übersetzt aus dem Englischen)
die Durchsetzung der Orthodoxie durch Kaiser, die verzweifelt um Ordnung bemüht waren. Die Durchsetzung der Orthodoxie ging einher mit der Unterdrückung jeder Form unabhängigen Denkens. Bis zum fünften Jahrhundert war das rationale Denken nicht nur unterdrückt, sondern auch durch „Mysterien, Magie und Autorität“ ersetzt worden.
Laut David C. Lindberg verfolgt das in diesem Zitat beschriebene Narrativ das Ziel, das frühe Christentum als anti-intellektuell, wissenschaftsfeindlich und hauptverantwortlich für den Niedergang Europas in das, was allgemein als das „Dunkle Zeitalter“ bezeichnet wird, darzustellen.
Hinweise auf eine antiwissenschaftliche Haltung
Tatsächlich findet man Hinweise darauf, dass im Christentum eine skeptische Haltung gegenüber der damaligen Philosophie, welche die Basis für die damalige Wissenschaft bildete, vorherrschte. So heißt es in Kolosser 2,8:
„Gebt Acht, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Überlieferung der Menschen und die Elemente der Welt und nicht auf Christus.“
Ein anderes Beispiel ist 1. Korinther 3,18. Und auch bei den frühen Kirchenvätern wie Tertullian (ca. 160-240), Tatian (unbekannt-172), Basilius von Caesarea (330-379) und Augustinus (354-430) sind ähnliche Aussagen zu finden. Tertullian schreibt beispielsweise:
Was hat eigentlich Athen [als Repräsentant heidnischer Lehre] mit Jerusalem [als Repräsentant der christlichen Religion] zu schaffen, was die Akademie [vermutlich Platons] mit der Kirche, was Ketzer mit Christen? […] Weg mit allen Versuchen, ein durch stoische, platonische und dialektische Einflüsse beflecktes Christentum zu schaffen! Wir bedürfen seit Jesus Christus des Forschens nicht mehr, auch nicht des Untersuchens, seitdem das Evangelium verkündet worden. Wenn wir Glauben haben, so wünschen wir über den Glauben hinaus weiter nichts mehr. Denn wenn wir einmal glauben, so gibt es nichts mehr, was wir über den Glauben hinaus noch zu glauben haben.
Zitate dieser Art erwecken den Eindruck, dass Paulus und die Kirchenväter die damalige Philosophie für unnütz und teils gefährlich hielten.
Die Praktiken der Kirchenväter
Bevor man jedoch voreilige Schlussfolgerungen trifft, sollte man zwei Dinge beachten:
- Die Kirchenväter waren nicht der Philosophie an sich feindlich gesinnt, sondern nur spezifischen philosophischen Prinzipien, die sie für falsch und gefährlich hielten.
- Schaut man hinter ihre Rhetorik und auf ihre tatsächliche Praxis, stellt man fest, dass dieselben Autoren, die die griechische Philosophie anprangerten, große Teile ihres Inhalts in ihre eigenen Denksysteme integrierten und sich für ihre Schmähschriften sogar deren Argumenten bedienten.
Tertullian beispielsweise verachtete die heidnischen Philosophen dafür, dass sie der Sonne, dem Mond und anderen Himmelskörpern göttliche Eigenschaften zusprachen. Um dies zu widerlegen argumentierte er aber auf Basis von „Wissen“, welches aus der griechisch-römischen Tradition selbst stammte, nämlich:
- dass die Himmelkörper sich auf festgelegten Umlaufbahnen bewegen und folglich einer anderen Macht untergeordnet sind und
- dass das Universum nach Plato einen Anfang gehabt haben muss, daher erschaffen ist und deshalb nicht göttlicher Natur sein kann.
Wenn es also darum ging, ihre theologischen Standpunkte gegen andere Sichtweisen zu verteidigen, waren die Kirchenväter sich nicht zu Schade auf das Wissen und die Methoden der griechischen Philosophen zurückzugreifen.
Wissen als Diener der Theologie
Passend dazu schreibt Augustinus:
„Alle Wahrheit ist letztendlich Gottes Wahrheit, auch wenn sie in den Büchern heidnischer Autoren zu finden ist; und wir sollten sie annehmen und ohne zu zögern nutzen.“
Der Knackpunkt ist, dass das Wissen nur als wertvoll angesehen wurde, wenn es als „Diener der Theologie“ einem höheren Zweck diente, allem voran der biblischen Auslegung. Aber auch für das alltägliche Leben sei z.B. bestimmtes mathematisches oder geschichtliches Wissen aus der klassischen Bildung notwendig. Zusätzlich drückte Augustinus seine Sorge aus, dass Unwissenheit in wissenschaftlichen Fragen dazu führen könnte, dass Christen vor Ungläubigen lächerlich erscheinen – ein weiteres Argument für einen Christen zumindest ein bestimmtes Level an Allgemeinbildung zu erwerben.
Über diesen extrinsischen Wert hinaus habe das Sammeln von Wissen aber keinen intrinsischen Wert: Wissen um des Wissens willen ist Unnütz. Der Gedanke dahinter ist folgender: Was bringt es, sich Gedanken über die Umlaufbahn des Mondes zu machen, wenn es Menschenseelen vor der Höhle zu warnen gilt? Letzteres hat natürlich eine viel höhere Priorität.
Laut Lindberg stimmt es also das es die Kirche im Mittelalter nicht als oberste Aufgabe sah, die klassischen Wissenschaften voranzutreiben. Trotzdem wurde der extrinsische Nutzen von Wissen geschätzt. Dessen Status als „Diener der Theologie“ wurde im Mittelalter bis in die Neuzeit unzählige Male dazu verwendet, um naturwissenschaftliche Forschungen zu rechtfertigen.
Stellt sich die Frage: Ist das genug? Wie wäre es gewesen, wenn es die Kirche nicht gegeben hätte? Dazu schreibt Lindberg:
Keine Institution oder kulturelle Kraft der patristischen Zeit förderte die Erforschung der Natur mehr als die christliche Kirche. Die zeitgenössische heidnische Kultur stand uneigennützigen Spekulationen über den Kosmos nicht wohlwollender gegenüber als die christliche Kultur.
Insgesamt zeigt die komplexe Beziehung zwischen dem frühen Christentum und der Wissenschaft, dass der Mythos von der feindlichen Haltung des Christentums gegenüber der Wissenschaft zu stark vereinfacht ist. Die Kirche erkannte den Wert der Wissenschaft und ihrer Methoden, insbesondere in der Auslegung der Bibel, und förderte schließlich die wissenschaftliche Forschung. Der Mythos vom Niedergang der antiken Wissenschaften durch das Aufkommen des Christentums bedarf daher einer differenzierteren Betrachtung.
Diskussion
Nach Zusammenfassen des ersten Kapitels in diesem Buch, möchte ich mich vorerst mit Kritik und Fragen zurückhalten und abwarten, was noch kommt. Drei Anmerkungen habe ich aber:
- Für mich ist die Schlüsselfrage die folgende: Wäre man ohne das Christentum schneller auf das Potenzial aufmerksam geworden, welches in naturwissenschaftlichen Wissen steckt? Man kann hier natürlich nur spekulieren, aber auch nach Yuval Harraris „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ (Zusammenfassung folgt noch) kam die Erkenntnis „Wissen ist Macht“ recht spät. Aktuell kann ich mir vorstellen, dass das Christentum daran nicht die Hauptschuld trägt, sondern andere Faktoren mehr Einfluss hatten.
- Das Buch „The Closing of the Western Mind“ aus dem das Eingangszitat stammt hat auf Amazon deutlich mehr Rezensionen als die Bücher von Lindberg. Die Bewertung ist nicht schlecht. Wahrscheinlich würde sich ein Blick in dieses Buch lohnen, um bei diesem Thema eine Gegenmeinung zu bekommen.
- Ein Zitat aus dem Kapitel, das mich am meisten zum Nachdenken gebracht hat, kommt von Basil von Caesarea. Der Kirchenvater stellt die Frage, warum wir „uns damit quälen sollten, die Irrtümer oder besser gesagt die Lügen der griechischen Philosophen zu widerlegen, wenn es doch ausreicht, ihre widersprüchlichen Bücher hervorzuholen und miteinander zu vergleichen.“ Spannend, hab ich mir gedacht. Ich selbst kenne da auch eine Sammlung von Büchern, über die ich aktuell dasselbe sagen würde, während Basil von Caesarea diese Sammlung für heilige Schriften hielt.